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Skizze
Bezeichnet zunächst im weitesten Sinne die autographe Spur eines kompositorischen Schaffensprozesses, die nicht den Status eines abgeschlossenen und ausgeführten Werktextes hat und sowohl zum Quellenkomplex eines konkreten Kompositionsprojektes gehört, als auch unabhängig davon entstehen kann (engl. sketch, frz. esquisse, ital. schizzo). Solche Aufzeichnungen unterscheiden sich von Manuskripten vollständiger, fertig gestellter Werke in der Regel durch die private Natur der Aufzeichnung, die sich nicht an Dritte wendet und oft durch persönliche Schreibgewohnheiten gekennzeichnet ist. Die Verwendung des Begriffs S. als Werktitel oder -untertitel signalisiert, dass das Unabgeschlossene, Vorläufige, eventuell auch Intime der Aufzeichnung zum ästhetischen Programm einer veröffentlichten Komposition erhoben wird.

Dass Komponisten sich im künstlerischen Schaffensprozess der Schrift bedienen, gehört zu den genuinen Verfahrensweisen einer musikalischen Schriftkultur und ist mittlerweile historisch weit zurück verfolgt worden. Die Geschichte der wissenschaftlichen Befassung mit Kompositions-S.n ist aufs engste verknüpft mit L. v. Beethoven, über dessen Skizzierungsverhalten schon zu seinen Lebzeiten Berichte kursierten. Einzelne S.n wurden bereits von A. Schindler publiziert. In die musiktheoretische Debatte um den Schaffensprozess wird der Begriff der S. von Johann Christian Lobe in seinem Lehrbuch der musikalischen Komposition (1850) eingeführt, dessen erster Band sich v. a. dem Beethovenschen Schaffen widmet. G. Nottebohms ausführliche Quellenstudien und erste Teilübertragungen von S.n wurden zur Grundlage für einen ganzen Forschungszweig. M. Graf rückte 1910 (auf Grundlage v. a. der Bestände des Archivs der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien den Blick über Beethoven hinaus auch auf W. A. Mozart, R. Schumann, J. Brahms und A. Bruckner richtend) schaffenspsychologische Aspekte in den Blick, Paul Mies verband in den 1920er Jahren die S.n- mit der Stilforschung, H. Schenker bezog in seinen Erläuterungsausgaben zu den späten Klaviersonaten Beethovens die Betrachtung von S.n in die Interpretationsanalyse ein. Nachdem das Bonner Beethovenarchiv bereits 1952 eine Faksimile-Edition der S.n-Bücher begonnen hatte, setzte in den späten 1960er und 1970er Jahren eine bis heute anhaltende Phase intensiver Arbeiten über die Struktur der S.n-Bücher und Beethovens Arbeitsweise ein, welche die S.n-Forschung als Teilgebiet des Faches Musikwissenschaft über den Gegenstand Beethoven hinaus vorangebracht haben und auch verschiedene Gesamtausgabenprojekte (z. B. A. Schönberg und Mozart) dazu anregten, S.n-Editionen einzubeziehen.

Durch ihre Orientierung an Beethoven war die S.n-Forschung von Beginn an mit der Begründung einer intellektuell erfassbaren autonomen Instrumentalmusik verbunden, sah in den S.n v. a. Dokumente auf Werke im emphatischen Sinne ausgerichteter kompositorischer „Arbeit“ und prägte damit ein Komponistenbild, das Beethoven zum einen von nur intuitiv erfassbaren Genies (wofür v. a. Mozart, aber auch Fr. Schubert standen), zum anderen von den in den Niederungen der Praxis befangenen (also nicht autonom schaffenden) „Handwerkern“ abhob, wie man sie etwa in reinen Opernkomponisten verkörpert sah – ein Grund, warum man etwa gerade im Falle Beethovens die S.n zu Fidelio bisher nahezu aussparte, Rich. Wagner aber, als ein Komponist, der ausdrücklich die Maßstäbe der absoluten Musik auf die Oper zu übertragen trachtete, durchaus – wenn auch spät – von Interesse war, und Mozarts S.n erst in jüngerer Zeit systematischer in den Blick genommen wurden, was auch zu einer Modifikation des Mozartbildes führen musste.

Je größer und historisch breiter allerdings das Feld der untersuchten Komponisten wird, desto klarer wird auch, wie genre- und zeitbedingt, wie individuell verschieden die Arbeitsweisen und ihr Verhältnis zur Schriftform sein können, so dass sich die Forschung von einer allgemein gültigen Definition des Begriffs der musikalischen S. S. und ihrer Funktion im Kompositionsprozess eher entfernt, als auf sie hin zu arbeiten. So lassen sich allgemeine Differenzierungen von Aufzeichnungen im Vorfeld der Niederschrift eines ausgeführten Werkes schlecht verallgemeinern: Unterscheidungen, wie die zwischen allgemeineren kompositorischen Vorarbeiten (z. B. die Befassung mit spezifischen Idiomen bestimmter Instrumente, Kontrapunktstudien, aber auch Zyklusdispositionen, Thementafeln etc.) und direkt auf einen Werktext zielenden Arbeitsschritten wie „S.“ und „Entwurf“, verstanden als auf ein Endziel – den Werktext – ausgerichtete Entwicklungsstufen, oder auch Systematiken wie die Unterscheidung in „Konzept-“, „Ausschnitts-„ und „Verlaufs-S.“ etc. erweisen sich v. a. im Blick auf spezifische Kompositionsweisen als sinnvoll. Auf einer allgemeinen Ebene kann jedoch – zumindest heuristisch – unterschieden werden zwischen Aufzeichnungen, die von vornherein vorläufigen Status haben, und Niederschriften, deren vollständige Ausführung aus welchen Gründen auch immer abgebrochen wurde oder nicht überliefert ist, also zwischen „S.n“ und „Fragmenten“.

In der Neuen Musik trifft man auf eine veränderte Situation, sobald sie sich nicht mehr auf ein allgemeingültig ausdifferenziertes System beziehen kann: Hier geben S.n Auskunft über individuelle Vorordnung oder Entwicklung von Tonsystemen und musikalischem Material im kompositorischen Prozess einzelner Komponisten, Werke oder Werkgruppen (z. B. in Reihentabellen etc. bei Schönberg, A. Berg oder A. Webern, seriellen Dispositionen in Reaktion auf die Begegnung mit Darmstadt/D in den 1950er Jahren bei K. Schiske, F. Cerha u. a., aber auch in den Materialdispositionen etwa bei G. F. Haas oder Ch. Ofenbauer). Analytische Arbeiten zu solcher Musik stützen sich oft selbstverständlich, ohne dies weiter methodisch zu diskutieren, auf S.n-Befunde, um über den Entstehungsvorgang die kompositorische Struktur zu erklären – ein Vorgehen, vor dem bereits Schönberg warnte, weil es suggeriert, man wisse, „was es ist“, wenn man wisse, „wie es gemacht ist“.

Während in den meisten analytisch ausgerichteten Studien die S.n v. a. vom fertigen Werk aus auf ihren strukturellen Sinn hin gelesen werden, rücken sie im Umfeld medientheoretischer wie editorischer Bemühungen in jüngerer Zeit wieder stärker als Spuren musikalischer Denkprozesse in den Blick – also nicht in jedem Fall eines Textes, sondern zunächst eines kreativen Handlungszusammenhangs. Aus dieser Perspektive gerät – angeregt von literatur- und kulturwissenschaftlichen Debatten – neuerdings zunehmend der Textstatus von S.n in die Diskussion.

Auch wenn das Skizzieren unmittelbar mit der Entwicklung einer musikalischen Schrift überhaupt (Notation) einhergeht und nicht unbedingt an den emphatischen Werk- oder Autorbegriff der autonomen Kunstmusik gebunden sein muss, wie er sich im späten 18. und v. a. 19. Jh. entwickelt hat, steht doch nicht nur die wissenschaftliche Erforschung, sondern auch die Überlieferung von S.n in direkter Verbindung hierzu. Dies zeigt sich schon in der unterschiedlichen Weise, in der Komponisten selbst mit ihren Aufzeichnungen umgehen: Offensichtlich skizzieren Komponisten schon sehr lange, verwendeten aber zunächst nicht immer konservierbare Schreibmedien (z. B. Schiefertafeln), oder aber kümmerten sich, so sie bereits auf Papier o. ä. schrieben, nach der Fertigstellung der Kompositionen nicht mehr um die Überlieferung dieser Spuren ihres künstlerischen Handelns, so dass diese mehr oder weniger zufällig ist (so bei Fällen aus dem 15. und 16. Jh.: etwa Francesco Corteccia, H. Isaac oder Palestrina, aber auch J. S. Bach, Mozart u. a.). Um 1800 entwickelte sich jedoch augenscheinlich ein neues Verhältnis zu solchen Notaten: Während manche, wie etwa J. Brahms, diese „privaten“ Aufzeichnungen vernichteten und damit ihre Überlieferung verhinderten, sammelte v. a. L. v. Beethoven und nach ihm zahlreiche andere wie Schönberg, Webern etc. ihre S.n systematisch, manche legen eigens S.n-Bücher an, die als Arbeitsmaterialien, „Ideen-Reservoir“, aber auch über ihren Tod hinaus als Dokumentation ihrer schöpferischen Tätigkeit dienen und mit den Nachlässen, heute bereits nicht selten auch schon zu Lebzeiten, Archiven übergeben werden. Wien ist mit Sammlungen wie dem Archiv der GdM, den Musikabteilungen der Österreichischen Nationalbibliothek und der Wiener Stadt- und Landesbibliothek oder dem Arnold Schönberg Center Wien, auf dessen Homepage Schönbergs S.n auch zu sehen sind (www.schoenberg.at), ein Zentrum solcher Quellenpflege.

Als ästhetisches Postulat steht „S.“ im Titel von veröffentlichten Kompositionen für eine Alternative zur Abgeschlossenheit des klassischen Kunstwerks: Zunächst findet man den Begriff anstelle des poetischen Titels in Varianten des lyrischen Klavierstücks bis hin zu A. Zemlinskys S. für Klavier oder E. Wellesz’ op. 6. Im 20. Jh. wurde er wiederholt aufgegriffen, prominent von Claude Debussy im Untertitel zu La Mer, in der 2. Jh.hälfte in Österreich beispielsweise von R. Schollum mit Oktett in 8 S.n op. 63, G. Schedl im Untertitel der Nächtlichen Szenen für Streichquartett. Eine ganze Gruppe von so bezeichneten Kompositionen findet man bei Wolfgang Rihm, der in einer Werkeinführung zu seiner „Orchester-S.Spur (1984/85) programmatisch erklärt, „das Werk“ sei „die Suche nach dem Werk“.


Literatur
B. R. Appel in Jb. des Staatl. Instituts Preußischer Kulturbesitz 1999; B. R. Appel in Mf 56 (2003); I. Bent in Music Analysis 3 (1984); R. Busch in TEXTkritische Beiträge 9 (2004); St. Carlton in Current Musicology 37/28 (1984); B. Cooper, Beethoven and the Creative Process 1990; M. Graf, Die Innere Werkstadt des Musikers 1910; J. Kerman in D. K. Holoman/C. V. Palisca (Hg.), Musicology in the 1980s: Methods, Goals, Opportunities 1982; U. Konrad, Mozarts Schaffensweise. Studien zu den Werkautographen, S.n und Entwürfen 1992; A. Lindmayr-Brandl, Fr. Schubert. Das fragmentarische Werk 2003; W. Breig (Hg.), Opernkomposition als Prozeß 1996; P. Mies, Die Bedeutung der S.n Beethovens zur Erkenntnis seines Stils 1925; G. Nottebohm, Beethoveniana 1872; G. Nottebohm, Zweite Beethoveniana. Nachgelassene Aufsätze, hg. v. E. Mandyczewski 1887; J. A. Owens, Composers at Work. The Craft of Musical Composition 1450–1600, 1997; H. A. Schafer, A Wisely Ordered Phantasie“: Haydn’s Creative Process from the Sketches and Drafts for Instrumental Music, Diss. Brandeis Univ. 1987; H. Danuser/G. Katzenberger (Hg.), Vom Einfall zum Kunstwerk. Der Kompositionsprozeß in der Musik des 20. Jh.s 1993; D. Johnson et al., The Beethoven Sketchbooks. History, Reconstruction, Inventory 1985.

Autor*innen
Dörte Schmidt
Letzte inhaltliche Änderung
15.5.2006
Empfohlene Zitierweise
Dörte Schmidt, Art. „Skizze“, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, begr. von Rudolf Flotzinger, hg. von Barbara Boisits (letzte inhaltliche Änderung: 15.5.2006, abgerufen am ), https://dx.doi.org/10.1553/0x0001e29a
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